
der artikel fiel mir eben in die digitalen finger mehr zu john pearce *1942 +2011 in kürze On Thu, Jul 5, 2012 at 4:59 PM Contraste e.V.
Aus CONTRASTE Nr. 331 (April 2012, Seite 12)
EINE WELTWEITE BEWEGUNG, TEIL 3:
Ein Leben für die Lokale Soziale Ökonomie
Während der Vorbereitung zu dieser Artikelserie erhielt ich die Nachricht, dass unser langjähriger schottischer Freund und Partner John Pearce im Dezember 2011 an einem Krebsleiden verstorben ist. Die Nachricht von seinem Tod hat nicht nur mich sehr betroffen gemacht; viele ehemalige Freunde und Partner haben uns geschrieben, dass die Soziale Solidarische Ökonomie mit John Pearce einen ihrer profiliertesten Vertreter verloren hat. Das hat mich auf die Idee gebracht, deren Bedeutung einmal anhand einer persönlichen Lebensgeschichte zu erläutern.
Von Karl Birkhölzer, Technologie-Netzwerk Berlin e.V. # John Pearce, geboren 1942 in Cornwall, war wie viele seiner Generation in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf der Suche nach sozialen und politischen Alternativen in einem sich gerade von seiner kolonialen Vergangenheit befreienden ehemaligen britischen Empire. Die ‘winds of change’ (wie die Periode der Entkolonialisierung auch genannt wurde) brachten ihn zunächst als freiwilligen Entwicklungshelfer nach Nepal, um ein Dorf für tibetanische Flüchtlinge aufzubauen. Dort sammelte er seine ersten Erfahrungen mit praktischer Gemeinwesenarbeit (‘community work’), vor allem aber die Erkenntnis, dass soziale Arbeit nicht ‘für’, sondern ‘mit’ den Betroffenen zu entwickeln ist und ‘von’ den Gemeinwesen selbst getragen werden muss. Dieses Prinzip durchzieht als Leitlinie seine gesamte spätere Arbeit. Diese frühen Erfahrungen prägten wohl auch sein Denken in weltweiten Zusammenhängen. ‘Community development’ (Gemeinwesenentwicklung) als ‘development from below’ (Entwicklung von unten) war für ihn stets ein Projekt mit weltweiten Dimensionen, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit konkreter Hilfe und Unterstützung für eine Vielzahl von Basisinitiativen in Australien, Indien, Malaysia, Neuseeland, Südafrika. ‘Think globally, act locally’ (Global Denken, lokal Handeln) war für ihn kein wohlfeiler Slogan, sondern praktischer Alltag.
Zurück in Großbritannien, begann er als Gemeinwesenarbeiter in abgelegenen ländlichen Regionen, zunächst in West Cumbria, Nordengland, in einem der ersten britischen ‘Community Development Programs’ (von 1972 bis 1977). Nach dessen Schließung (dem auch uns sattsam bekannten Schicksal solcher befristeten Programme) ging er in das teils ländlich, teils altindustriell geprägte West Lothian in der Nähe von Glasgow.
Bereits Mitte der 70er Jahr hatte die ökonomische Spaltung der Welt in Wohlstands- und Armutszonen als Problem nicht nur der sog. ‘unterentwickelten’, sondern zunehmend auch der sog. ‘entwickelten’ Welt neben den peripheren ländlichen Räumen auch die industriellen Zentren Großbritanniens (in London, Birmingham, Manchester, Glasgow) erreicht. Der dramatische De-Industrialisierungsprozess im schottischen Clyde River Valley, dem traditionellen Zentrum des britischen Schiffbaus, bedrohte nicht nur die materielle Existenz vieler ehemaliger Werft- und Industriearbeiter, sondern zunehmend auch ganzer Nachbarschaften, Stadtviertel und Gemeinden. Ökonomische Selbsthilfe und genossenschaftliche Solidarität waren plötzlich wieder gefragt, allerdings auch nicht völlig in Vergessenheit geraten – Robert Owen’s New Lanark lag ganz in der Nähe.
Als selbst von Arbeitslosigkeit bedrohter Gemeinwesenarbeiter wurde John zu einer der treibenden Kräfte bei der Wiederbelebung des schottischen Industrial Common Ownership Movement / ICOM (einem Dachverband der Genossenschaftsbewegung), der Gründung des Scottish Co-operative Development Committee / SCDC als politischer Lobby und des Scottish Industrial Common Ownership Finance / ICOF, eines genossenschaftlichen Unterstützungsfonds. Dabei ging es ihm vor allem um die Entwicklung neuer genossenschaftlicher Handlungsformen, insbesondere der ‘Community Co-operatives’ (Gemeinwesen-, d.h. Nachbarschafts-, Stadtteil-, Dorf- oder Inselgenossenschaften) mit ihrem dreifachen Motto: ‘common ownership – community control – community benefit’ (im Eigentum – unter der Leitung – und zum Nutzen des Gemeinwesens), nachzulesen in einem seiner immer noch lesenswerten Bücher: ‘Running Your Own Co-operative’ von 1984. Die rasante Ausbreitung und Weiterentwicklung dieser Bewegung, ihre Erfolge und Misserfolge, ihre Theorie und Praxis sind Gegenstand einer weiteren wegweisenden Veröffentlichung: ‘At the Heart of the Community Economy’, 1993.
Wie der Titel andeutet, verstand John die neu entstehenden ‘community businesses’, ‘community enterprises’, ‘community development trusts’ bereits damals als Keimzelle einer neuen gemeinwesenorientierten Ökonomie, oder wie es Herman E. Daly, ehemaliger Mitarbeiter und späterer Kritiker der Weltbank ausgedrückt hat: ‘Economy, as if community matters!’ (frei übersetzt: eine Wirtschaft, die sich vorrangig ums Gemeinwohl kümmert). Die veränderte Begrifflichkeit verdeutlicht zweierlei, zum einen den Anspruch der neuen ‘gemeinnützigen Unternehmen’ als vollwertiger und gleichberechtigter Teil der Wirtschaft ernst genommen zu werden – und zum anderen, dass solidarische Prinzipien auch in anderen als den traditionellen genossenschaftlichen Rechtsformen realisiert werden können.
Zehn Jahre später (2003) konnte auf dieser Grundlage das erste britische ‘Social Enterprise Program’ durchgesetzt werden, mit seiner (bis heute vorbildlichen) Charakteristik ‘sozialer Unternehmen’ (in sinngemäßer Übersetzung): ‘Ein soziales Unternehmen ist ein Betrieb, der in erster Linie soziale Zwecke verfolgt und dessen Überschüsse hauptsächlich für diese Zwecke in das Unternehmen oder in das Gemeinwesen re-investiert werden, anstatt darauf aus zu sein, die Profite für Anteilseigner oder Eigentümer zu maximieren.’ Den Weg dorthin reflektiert seine dritte wegweisende Veröffentlichung: ‘Social Enterprise in Anytown’, 2003, quasi als Abschluss einer Trilogie über drei Jahrzehnte Entwicklung in der Lokalen Sozialen Ökonomie.
Auch in anderer Hinsicht war John seiner Zeit oft weit voraus: Als sich die Europäische Union angesichts der Ausbreitung wirtschaftlicher Krisengebiete in den frühen 80er Jahren erstmals genötigt sah, ein spezielles Gemeinschaftsprogramm zur Armutsbekämpfung (das sog. ‘Poverty I’) aufzulegen, entwickelte er in diesem Rahmen und in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule von Paisley für die Region um Glasgow das ‘Local Enterprise Advisory Project / LEAP’ als eines der ersten Pilotprojekte für lokalökonomische Entwicklung, nach dem Grundsatz: ‘local work – for local people – using local resources’, d.h. konkret:
• Umwandlung leerstehender Gebäude und Industrieanlagen in lokale Entwicklungszentren; • Investition in die brachliegenden Fähigkeiten und Kenntnisse der Arbeitslosen; • Orientierung auf die unversorgten Bedürfnisse bzw. ungelösten Konflikte der lokalen Gemeinwesen; • Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit; • Revitalisierung lokaler Wirtschaftskreisläufe und nicht zuletzt • gemeinschaftliche Unternehmensgründungen von und mit den Betroffenen.
Zum Vorbild wurde dieses Projekt vor allem durch das sog. ‘workspace’ – Konzept zur Aktivierung der Arbeitslosen bzw. betroffenen Gemeinwesen: Es beginnt mit der Schaffung von Arbeits-Plätzen im wahrsten Sinne des Wortes, d.h. der Er- und Einrichtung von Arbeits-Räumen, ihrer Ausstattung mit den erforderlichen Arbeitsmitteln, dem Angebot von Beratungs- und Unterstützungsleistungen für die Entwicklung eigenständiger Arbeitsvorhaben und ihrer Umsetzung in Unternehmensgründungen im Rahmen eines ‘managed workspace’, d.h. eines gemeinschaftlich verwalteten Gemeinwesen- und Gewerbezentrums. ‘Govan Workspace’ im Zentrum der ehemaligen Werftindustrie von Glasgow war eines der ersten nach diesem Konzept geführten (und bis heute lebendigen) ‘community businesses’. Anders als bei so manchen Förderprojekten konnte LEAP verstetigt werden zur ersten schottischen regionalen Entwicklungsagentur: ‘Strathclyde Community Business / SCB’, mit Folgeprojekten in fast allen schottischen Regionen und einem Dachverband ‘Community Business Scotland / CBS’.
Der Ruf dieses Konzeptes drang auch bis in unser Arbeitslosenselbsthilfeprojekt PAULA in Berlin, wurde Grundlage unseres Forschungsprojekts ‘Lokale Ökonomie’ und einer langjährigen Partnerschaft im ‘Europäischen Netzwerk für Ökonomische Selbsthilfe und Lokale Entwicklung / EURONETZ’ (seit 1992) und darüber hinaus in der ‘Commonwealth Association for Local Action and Economic Development / COMMACT’.
Wir haben dieser Partnerschaft viel zu verdanken. Sie hat uns ermöglicht, in einer Serie von gemeinschaftlichen Forschungsvorhaben, Entwicklungsprojekten und Veröffentlichungen eine eigenständige Position zu erarbeiten. Das betrifft die Weiterentwicklung einer ökonomischen Theorie des Dritten Sektors bzw. Dritten Systems, die Entwicklung alternativer betriebswirtschaftlicher Instrumente für soziale Unternehmen, vom Gründungsprozess über den Einsatz sozialen Kapitals bis zur sozialen Buchführung und Rechnungslegung, und nicht zuletzt die Erarbeitung eines Europäischen Curriculums für die Lokale Soziale Ökonomie (www.Cest-transfer.de).
John war selbst nie Angestellter oder Manager in einem der von ihm mitgegründeten Unternehmen, sondern lebte hauptsächlich von den Einnahmen seiner Berater-, Forschungs- und Lehrtätigkeit, unterstützt von seiner Familie und einer kleinen dörflichen Haus- und Landwirtschaft. Er war trotz aller Weltläufigkeit in die ‘local community’ seines Dorfes eingebunden und pflegte die Gastfreundschaft eines offenen Hauses, in dem nicht nur debattiert, sondern auch gefeiert werden konnte. So verbindet uns nicht nur die sachliche Zusammenarbeit, sondern auch die Erinnerung an gemeinsame Feste, Reisen und Exkursionen, wobei er das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden verstand.
Trotz aller Intellektualität und pädagogischem Impetus war John nie Teil einer akademischen Institution, es dürfte ihm auch nie wirklich wichtig gewesen sein. So mutet es wie eine späte Ehrung an, dass sein umfangreiches Archiv an Glasgow Caledonian University gespendet wurde, wo es dem Aufbau einer Spezialbibliothek, der ‘Social Enterprise Collection’ dient.
Wir haben nicht nur einen Partner, sondern auch einen Freund verloren!
P.S.: Wer Näheres, z.B. über die genannten Projekte oder Veröffentlichungen wissen möchte, wende sich an den Autor: k.birkhoelzer(at)technet-berlin.de